Ist das Gewissen unfehlbar? Der ethische Kompass in unserem Gehirn. Mit und gegen Martin Luther

«Hier stehe ich, ich kann nicht anders!» Das ist Martin Luthers berühmtester Satz. Der Reformator hat ihn 1521 am Reichstag zu Worms vermutlich nicht genau so gesagt, legendär ist der Satz dennoch geworden. Das Gewissen des Einzelnen wird zum Maßstab für Gut und Böse. Der Entscheid des Gewissens steht grundsätzlich über allen menschengemachten Autoritäten und Institutionen. Heute ist die Gewissensfreiheit Bestandteil der schweizerischen Bundesverfassung und des deutschen Grundgesetzes.

Wir fragen: Ist denn das Gewissen wirklich so unabhängig? Irrt es nie? Und kann ich etwas dazu beitragen, dass es gut funktioniert?

Ein anregendes neues Wort zum Sonntag wünscht herzlich
Gottfried Locher

Das Video

Das Gewissen als innerer Kompass

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Bonusmaterial

Reichstag zu Worms 1521 – Von der Macht des Gewissens

Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms. Kolorierter Holzschnitt von 1556

Hier eine ausführlichere Darstellung mit Auszügen aus dem Film «Luther» (2003). Übrigens: Schon Thomas von Aquin betonte die Bedeutung des Gewissens für den Glauben und legte damit den Grundstein für Luthers Gewissensfreiheit:

„Der Mensch, der das Gute will, muss mit sich selbst zu Rate gehen, muss sorgfältig überlegen, wie er das Ziel, das Gute, erlangen kann.“

Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate.

Christliche Kernaussagen zu «Gewissen»

„Im Innersten seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß und dessen Stimme ihn immer anruft, das Gute zu lieben und zu tun und das Böse zu meiden und so, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt … Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist… Und das Gewissen ist der verborgenste Kern und das Heiligtum des Menschen, in dem er allein ist mit Gott, dessen Stimme in seinem Innersten widerhallt” (GS 16)

Das Gewissen ist ein Urteil der Vernunft, in welchem der Mensch erkennt, ob eine konkrete Handlung, die er beabsichtigt, gerade ausführt oder schon getan hat, sittlich gut oder schlecht ist. Bei allem, was er sagt und tut, ist der Mensch verpflichtet, sich genau an das zu halten, wovon er weiß, daß es recht und richtig ist.

Es ist ein Bote dessen, der sowohl in der Natur als auch in der Gnade hinter einem Schleier zu uns spricht und uns durch seine Stellvertreter lehrt und regiert. Das Gewissen ist der ursprüngliche Statthalter Christi” (J. H. Newman).

Um die Stimme des Gewissens vernehmen und ihr folgen zu können, muß man in sich gehen. Dieses Streben nach Innerlichkeit ist umso nötiger, als das Leben uns oft in Gefahr bringt, jegliche Überlegung, Selbstprüfung und Selbstbesinnnung zu unterlassen.

Das Gewissen ermöglicht es, für die vollbrachten Handlungen die Verantwortung zu übernehmen. Hat der Mensch Böses getan, kann das rechte Gewissensurteil in ihm immer noch Zeuge dafür sein, daß die moralische Wahrheit gilt, seine konkrete Entscheidung aber schlecht ist. Der Schuldspruch des schlechten Gewissens bleibt ein Unterpfand der Hoffnung und des Erbarmens. Indem er die begangene Verfehlung bezeugt, mahnt er, um Vergebung zu bitten, das Gute doch noch auszuführen.

Der Mensch hat das Recht, in Freiheit seinem Gewissen entsprechend zu handeln, und sich dadurch persönlich sittlich zu entscheiden. „Er darf also nicht gezwungen werden, gegen sein Gewissen zu handeln. Er darf aber auch nicht daran gehindert werden, gemäß seinem Gewissen zu handeln…

Das Gewissen muß geformt und das sittliche Urteil erhellt werden. Ein gut gebildetes Gewissen urteilt richtig und wahrhaftig. Es folgt bei seinen Urteilen der Vernunft und richtet sich nach dem wahren Gut, das durch die Weisheit des Schöpfers gewollt ist. Für uns Menschen, die schlechten Einflüssen unterworfen und stets versucht sind, dem eigenen Urteil den Vorzug zu geben und die Lehren der kirchlichen Autorität zurückzuweisen, ist die Gewissenserziehung unerläßlich.

Die Erziehung des Gewissens ist eine lebenslange Aufgabe. Schon in den ersten Jahren leitet sie das Kind dazu an, das durch das Gewissen wahrgenommene innere Gesetz zu erkennen und zu erfüllen. Eine umsichtige Erziehung regt zu tugendhaftem Verhalten an. Sie bewahrt oder befreit vor Furcht, Selbstsucht und Stolz, falschen Schuldgefühlen und Regungen der Selbstgefälligkeit, die durch menschliche Schwäche und Fehlerhaftigkeit entstehen können. Gewissenserziehung gewährleistet die Freiheit und führt zum Frieden des Herzens.

Bei der Gewissensbildung ist das Wort Gottes Licht auf unserem Weg. Wir müssen es uns im Glauben und Gebet zu eigen machen und in die Tat umsetzen. Auch sollen wir unser Gewissen im Blick auf das Kreuz des Herrn prüfen. Wir werden dabei durch die Gaben des Heiligen Geistes und das Zeugnis und die Ratschläge anderer unterstützt und durch die Lehre der kirchlichen Autorität geleitet.

Vor eine sittliche Entscheidung gestellt, kann das Gewissen in Übereinstimmung mit der Vernunft und dem göttlichen Gesetz richtig urteilen oder, falls es sich an beides nicht hält, irren.

Der Mensch steht zuweilen vor Situationen, die das Gewissensurteil unsicher und die Entscheidung schwierig machen. Er soll jedoch stets nach dem Richtigen und Guten suchen und den Willen Gottes, der im göttlichen Gesetz zum Ausdruck kommt, erkennen.

Zu diesem Zweck bemüht sich der Mensch, seine Erfahrungen und die Zeichen der Zeit mit Hilfe der Tugend der Klugheit, der Ratschläge sachkundiger Menschen und mit Hilfe des Heiligen Geistes und seiner Gaben richtig zu deuten.

Dem sicheren Urteil seines Gewissens muß der Mensch stets Folge leisten. Würde er bewußt dagegen handeln, so verurteilte er sich selbst. Es kann jedoch vorkommen, daß das Gewissen über Handlungen, die jemand plant oder bereits ausgeführt hat, aus Unwissenheit Fehlurteile fällt.

An dieser Unkenntnis ist der betreffende Mensch oft selbst schuld, z. B. dann, wenn er sich zuwenig darum müht, nach dem Wahren und Guten zu suchen, und das Gewissen aufgrund der Gewöhnung an die Sünde allmählich fast blind wird. In diesem Fall ist er für das Böse, das er tut, verantwortlich.

Das gute und reine Gewissen wird durch den wahren Glauben erleuchtet, denn die christliche Liebe geht gleichzeitig „aus reinem Herzen, gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben” hervor (1 Tim 1,5) [Vgl. 1 Tim 3,9; 2 Tim 1,3; 1 Petr 3,21; Apg 24,16].

Das Gewissen in der Hirnforschung: die Stimme der Neuronen

Früher, so schien es, konnte man sich auf sein Gewissen noch verlassen. Es galt als stabile Instanz, die sich warnend zu Wort meldet, wenn der wankelmütige Mensch dabei ist, gegen Sitte und Moral zu verstoßen. Heute dagegen stellen Hirnforscher und Kognitionswissenschaftler diesen Begriff des Gewissens hingegen radikal in Frage.

Gehirn

Musikalischer Schlusspunkt mit dem Rapper Eminem: «Guilty Conscience» («schlechtes Gewissen»)

eminem